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Sebastian Lux
Kurator, Stiftung F.C. Gundlach
Über die Fotografien von Franziska Stünkel
Der Reisende in fernen Städten, zu Fuß unterwegs durch abendliche Straßen, taucht bisweilen in eine vollkommen unwirkliche Zwischen-Welt ein. In den erleuchteten Schaufenstern scheinen Dinge und Menschen zum Greifen nahe und sind doch hinter den Scheiben unerreichbar. Es fehlt an Geräusch und Geruch, im Vorübergehen verschmelzen Innenraum und Außenraum als verwirrende Überlagerungen von Einblick und Reflexion im spiegelnden Glas miteinander. Fragmente von Handlungen und Bruchstücke von Szenen werden zu rätselhaften visuellen Symbolen, deren Bedeutung für den Passanten nicht eindeutig zu entschlüsseln ist.
Der Reisende beobachtet und ist doch der Wirklichkeit wie entrückt.
Die Reisende Franziska Stünkel hält diesen irritierenden Schwebezustand in ihren Fotografien fest, die in schwindelerregendem Wechsel von Schärfe und Unschärfe, von brillanten Neonlichtern und gebrochenen Weißtönen zwischen Traum und Realität changieren. In der Durchdringung von Bildebenen bekommen ihre Bilder eine fast filmische Anmutung.
Konsequent verfolgt sie auf ihren Streifzügen den visuellen Ansatz ihrer Werkserie COEXIST und setzt in den Städten Europas fort, was sie mit ALL THE STORIES in Asien und Afrika begonnen hatte – sie berührt mit der Kamera die Leben der Menschen in den Städten, bleibt aber durch Linse und Fensterglas doppelt von den Ereignissen getrennt.
Sorgfältig komponiert sie jedes ihrer Motive durch die Bewegung mit der Kamera im Raum und gestaltet vielschichtige Bildwelten aus Ansicht und Spiegelung in den Scheiben der Fenster. So erreicht sie eine fast durchscheinende Zartheit der Bildelemente, welche die Ambiguität von Innen und Außen noch einmal verstärkt. Nun kommen ihr geschultes Auge und ihre fotografische Intuition ins Spiel: Wie selbstverständlich nutzt sie den kurzen Moment für die Aufnahme, in dem der Zufall die Menschen und Objekte auf den unterschiedlichen Bildebenen für einen Augenblick zueinander in Relation setzt. Zu höchster Komplexität aufgeladen, zeigt jedes Bild der Serie so zugleich das Davor, das Dahinter und das Dazwischen. Wie Alexander Tolnay in seinem Essay „Zu den Fotografien von Franziska Stünkel‟ schreibt, macht ihr Gespür für das dreifache Gefüge des Bildes als architektonischer Raum, als zwischenmenschlicher Raum und als Seh-Raum des geplanten Motivs diese Gestaltung möglich. Auf technische oder digitale Manipulation verzichtet sie vollkommen.
COEXIST vereint die seit 2010 während ihrer Reisen auf drei Kontinenten entstandenen Werkkomplexe. Dieser Gesamtschau gelingt, was auch der Titel ausdrückt: die Visualisierung der Gemeinsamkeiten und Gegensätze, die in unserer vielfältig vernetzten Welt bestehen. In der Parallelität der Ansichten und Ereignisse verblassen kulturelle Unterschiede und werden zu Nuancen städtischen Alltags, wie er in Kopenhagen, Berlin und Istanbul, in Shanghai und Bangkok, in Johannesburg und Kapstadt in vielfältigen Variationen eines Themas existiert – der urbane Raum als Schmelztiegel der Kulturen.
Franziska Stünkels Fotografie ist zunächst Street Photography, die den Augenblick einfängt und die flüchtigen Konstellationen menschlichen Lebens festhält. Jedoch unterscheidet sich ihr Ansatz deutlich von der anteilnehmenden Fotografie eines Henri Cartier-Bresson, noch deutlicher von dem sozialdokumentarischen Interesse eines Walker Evans und von den vielen Schülern dieser beiden prägenden Väter der Street Photography. Besonders nahe ist sie der New Yorker Straßenfotografin Helen Levitt. Wie diese ist auch Franziska Stünkel selbst im Bild weder zu sehen noch zu spüren. Die Blickwinkel in Scheiben und reflektierende Flächen sind stets so gewählt, dass kein verstecktes Selbstporträt im Spiegel entsteht. Vor allem aber gibt es keinerlei Interaktion zwischen der Fotografin und ihren Protagonisten, die sich offenbar unbeobachtet fühlen und vollkommen frei agieren. Die Fotografin verschwindet aus ihrem Werk, als Betrachter rücken wir in die erste Reihe, haben direkt Teil an der Verflechtung der Ereignisse, werden zur Schnittstelle der Ebenen, die sich erst in unserer Wahrnehmung zu einem gemeinsamen Bild zusammensetzen.
Ganz gegenwärtig ersetzt Franziska Stünkel die unmittelbare Begegnung mit den Menschen durch die indirekte Wahrnehmung in der Reflexion und thematisiert mit der Verlagerung des Alltags von den Straßen hinter die schützenden Fassaden der Gebäude einen weiteren entscheidenden Aspekt unserer Zeit – die Existenz des Individuums in der Anonymität der Großstadt. Gleichzeitig spiegelt sie in den folienhaft übereinanderliegenden Wirklichkeitsebenen die untrennbare Vereinigung von privatem Leben und öffentlichem Raum, die sich beinahe als Metapher für unser virtuelles Leben im Internet und in sozialen Netzwerken lesen lässt: Die vielen kurzen unpersönlichen Einblicke in die banalsten, aber auch in die privatesten Gedanken von engen Freunden und entfernten Bekannten verschwimmen zu verwirrenden, kaleidoskopischen Tableaus, deren vielschichtige Bezüge uns am Ende verborgen bleiben.
Innerhalb der Serie COEXIST kontrapunktiert die Fotografin ihre Menschen-Bilder mit ruhigeren Aufnahmen, die sich auf Architektur und Topographie konzentrieren und gleichsam den Bühnenraum für weitere Episoden schaffen. Das verbindende Element bleibt dabei die Durchdringung von Innen und Außen in der transluzenten Überlagerung von Einblick und Reflexion, wodurch das Verhältnis der Gebäude zu ihrem Umfeld – in Körper, Licht und Schatten – besonders eindrucksvoll zur Geltung kommt.
Die energiegeladenen Fotografien Franziska Stünkels entfalten ihre unmittelbare Wirkung aus ihrer überbordenden Vielfalt, ihrer spielerischen Detailverliebtheit – und nicht zuletzt auch aus der Nähe zum Film. Ohne Zweifel ist jedes der Motive eine Momentaufnahme und doch stehen die einander überlagernden Ebenen zueinander wie die Szenen eines Theaterstücks. Wie in Robert Altmans Episodenfilm „Short Cuts‟ scheint eine alle Bildelemente verbindende Erzählung möglich und die angeregte Phantasie des Betrachters schließt die Lücken, ergänzt eine Vorgeschichte und hofft auf ein Happyend.
Die konzeptuelle Strenge, die Franziska Stünkels Werkserie über Jahre hinweg zu einem geschlossenen Ganzen wachsen ließ und der spielerischer Umgang mit den Details machen die Begegnung mit den Bildern so zu einem doppelten Genuss: COEXIST entfaltet sich zu einer kristallklaren Komposition aus Thema und Variation während die einzelnen Motive eine Fülle teils irritierender Assoziationen auslösen und eine Vielfalt immer neuer Geschichten erzählen.
Der Text stammt aus dem Ausstellungskatalog
COEXIST
Fotografien von Franziska Stünkel
Format: 30 cm x 23,5 cm
Umfang: 115 Seiten
Sprache: Deutsch
Veröffentlichung: Mai 2014