Karin Rehn-KAUFMANN –
Art Director & Chief Representative Leica Galleries International
Über die Fotografien von Franziska Stünkel
Werd ich zum Augenblicke sagen:
Verweile doch! Du bist so schön!
Johann Wolfgang von Goethe, Faust
Wir leben in einer Zeit der visuellen Reizüberflutung. Was sehen wir, welche Bilder nehmen wir überhaupt noch wahr? Welche Kriterien müssen insbesondere künstlerische Positionen erfüllen, um sichtbar zu werden, um unsere Aufmerksamkeit zu erhalten? Diese Grundfragen können durchaus mit größtem Erkenntnisgewinn als Ausgangspunkt für die Betrachtung des Werkes von Franziska Stünkel genommen werden. Als Allererstes benötigt man ausreichend Zeit. Nimmt man sich diese allerdings und schaut auf die Motive der Künstlerin, so ist man schnell von der Kraft ihrer erstaunlichen Kompositionen gebannt. In einzigartiger Form fotografiert sie Reflexionen und Spiegelungen auf Glasflächen, verdichtet Momente des städtischen Alltags in vielschichtige Motive. Ein genaues Hinsehen lohnt, denn die Bildautorin führt – oder besser verführt – den Betrachter in ihre ganz eigenen Bildwelten, die zwar in dem Augenblick der Aufnahme ganz real existierten, aber nur durch den fotografischen Apparat in dieser Form auch festgehalten werden konnten. Die Fotografie erscheint hier als das perfekte Medium der Annäherung an eine immer komplexer werdende Wirklichkeit. Die Flüchtigkeit des Moments erhält im Werk Stünkels Kontur und Beständigkeit, zeigt die Schönheit der Welt in ansonsten kaum wahrzunehmender Weise. „Verweile doch!“: Ja, längst müssen wir uns dafür nicht mehr – um bei den Worten von Goethe zu bleiben – in Fesseln schlagen lassen oder gar dafür zugrunde gehen, wie er es Faust gegenüber Mephistopheles zum Ausdruck bringen lässt. Doch vor dem Festhalten der Schönheit liegt immer ihre Erkenntnis. Und die Künstlerin ist längst eine erfahrene Perfektionistin im Finden und Erkennen ganz besonderer magischer Momente.
Seit zehn Jahren arbeitet Franziska Stünkel an der fortlaufenden Serie „Coexist“. Mittlerweile war sie auf vier Kontinenten unterwegs und hat in den letzten Jahren erste Teile der Serie publiziert und vor allem ausgestellt. Mit dem vorliegenden Buch ist nun der Zeitpunkt für eine Gesamtschau erreicht. Noch nie konnte bisher in dieser Fülle auf das Besondere und Wesentliche der Serie geschaut werden. 2010 entstanden erste Aufnahmen in Asien, zwei Jahre später in Afrika und in weiteren Zweijahresschritten in Europa und dem Mittelmeerraum sowie als aktuellste Ergänzungen in diesem Jahr in Amerika. Doch die Entstehungsjahre sind für diese Buchpräsentation nicht relevant, geht es der Künstlerin doch vielmehr um den weltumspannenden Eindruck ihrer Idee. Daher werden Länder und Kontinente bewusst vermischt und in spannungsvolle Beziehungen zueinander gesetzt. „Coexist“ bezeichnet die überbordende Vielfalt visueller Eindrücke der Reisen, die Gemeinsamkeiten oder Ähnlichkeiten sowie sichtbare Gegensätze, die in städtischen Räumen aufeinandertreffen. Regionale Besonderheiten oder kulturelle Traditionen sowie globalisierte Angleichungen der urbanen Straßenszenen werden in Stünkels Motiven mit den individuellen Erscheinungen und Selbstinszenierungen der ganz zufällig im Bild auftauchenden Personen zusammengebracht. „Spiegelungen ermöglichen die Wahrnehmung zeitgleichen Lebens. Wir alle leben in Koexistenz, manchmal auch ohne dies bewusst zu bemerken. Ich suche die Sichtbarmachung“, erklärt die Fotografin im Interview.
Eine Leica M9 ist ihre stetige, unauffällige Begleiterin. Mag sich die Fotografin zunächst kaum von anderen Flaneuren unterscheiden, so ist doch ihr trainierter Blick auf die jeweilige Umgebung ein völlig anderer. Das schnelle Reagieren auf eine für sie visuell verlockende Situation ist ein perfekt geübter Ablauf. Dass sie dabei selbst stets unsichtbar und auf keiner der Spiegelungen in den Bildern erkennbar ist, bleibt für den Betrachter ein Rätsel. Wichtig bei ihrer fotografischen Arbeit sind die Unabhängigkeit und Freiheit. Anders als bei ihrer vor allem durch verlässliches Teamwork geprägten Arbeit als Filmregisseurin, hat sich Stünkel mit ihren fotografischen Exkursionen einen unabhängigen kreativen Freiraum geschaffen, der nur durch das Reagieren auf Orte und Situationen gelenkt wird. Sie reist immer allein und mit leichtem Gepäck, die Kamera dabei fast beiläufig in einer bequemen Handtasche versteckt. Nur so hat sie die notwendige Freiheit, um intuitiv und souverän auf ihre Umwelt zu reagieren. Anders als die meisten Touristen ist sie auch nicht an den Sehenswürdigkeiten oder architektonischen Besonderheiten der von ihr bereisten Städte interessiert, sondern ihr Blick gilt allein den künstlerisch relevanten, aber dabei universellen Momenten innerhalb der Metropolen der Welt. Bemerkenswert ist auch der Umstand, dass die Bilder im Nachhinein nicht mehr bearbeitet werden. Das in der Situation gesehene Bild ist das Ziel. Es gibt keine weiteren Beschnitte oder digitalen Nachbearbeitungen, kein Photoshop, keine Retuschen. Die Künstlerin lässt ihre Fotografien als reales Abbild der Wirklichkeit bestehen, gleichwohl nur sie diesen Moment mit der Kamera sichtbar werden lassen konnte.
Die Stadt ist der einzig richtige Ort für ihre Serie. Die Straßen und Plätze der Metropolen bieten die nötigen Bühnen für die Szenen und ausgeklügelten Spiegelmotive von „Coexist“. Aber anders als die Urheber der traditionellen Street Photography ist Stünkel kaum an den Passanten selbst oder dem Dokumentieren des Straßenlebens interessiert, sondern erarbeitet eine stetige Verdichtung unterschiedlicher, aber gleichzeitiger Momente. Ihre Strategie der Straßenfotografie ist durchaus komplexer als nur das Auffinden des entscheidenden Moments. Synonym wird die Komplexität des Bildaufbaus als Vielschichtigkeit des Stadtraumes genutzt. Hier entstehen keine Schnappschüsse, sondern perfekt erkannte Bildtableaus. Aus der Realität wird in den Motiven Stünkels eine sensible Form der Abstraktion gestaltet. Schon im Bruchteil der nächsten Sekunde ist die von ihr gesehene Komposition unwiederbringlich verloren. Wichtigste gestalterische Merkmale ihrer Arbeiten sind die Faktoren Licht, Transparenz und Farben. Es ist immer wieder erstaunlich, wie die fotografierten Objekte ihre Materialität und ihre konkrete Gebundenheit an den jeweiligen Ort zu verlieren scheinen und in einer künstlerischen Fragilität zu neuen Formen finden.
Die Motive der Künstlerin haben etwas Magisches. Sie strahlen, wobei die Kompositionen aus Licht und Farben nicht etwa durch eine hinterlegte Lichtquelle zum Leuchten gebracht werden, sondern es sind die Bilder selbst, von denen eine ungewöhnliche Strahlkraft auszugehen scheint. Diese Erfahrung verstärkt sich vor den Originalen, sind die Oberflächen der im Diasec-Verfahren präsentierten Fotografien doch ebenfalls hochglänzende Reflexionsebenen. So wie die natürlichen Spiegelungen den Außen- mit dem Innenraum in ihren Bildern verbinden, wird auf den großformatigen Exponaten der Betrachter selbst mit seinem Spiegelbild in das Motiv eingewoben. Umso mehr zeigt sich hier die Bedeutung des Materiellen jenseits technischer Daten und Pixel: Das Bild ist erst dann ein Bild, ein physisch zu betrachtendes Gegenüber, wenn es in die richtige Form gebracht wurde.
Trotz der auf den ersten Blick vermuteten Beiläufigkeit hat die Künstlerin Arbeiten geschaffen, die nachwirken und sehr eindrücklich über unsere Zeit der globalisierten Welt berichten. So zeitlos und wenig ortstypisch die Motive auch wirken, geben sie in ihrer Konsequenz doch in bester Weise einen Spiegel unserer Zeit wider. Sie sind ein Querschnitt durch die Metropolen der Moderne, ein Zusammenspiel der koexistierenden vielen Schicksale der heute lebenden Menschen und der sie umgebenden Architektur und Stadtlandschaft. Aus der zunächst erlebten Fremdartigkeit der Orte erzeugt Franziska Stünkel mit der universellen Sprache der Gefühle eigene, künstlerisch überhöhte Bildwelten. Die Serie ist damit hochaktuell und versinnbildlicht vielleicht am anschaulichsten das Lebensgefühl einer globalisierten, dynamischen Generation von schöpferisch tätigen Künstlern unserer Zeit. Stünkels Atelier ist die Welt. Es überrascht nicht, dass die Kamera dabei das wichtigste und bevorzugte Arbeitsinstrument ist.