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Freddy Langer

Nicht drinnen,
nicht draußen

Für Franziska Stünkel öffnen überall auf der Welt die Spiegelungen in Fenstern einen direkten Weg in den Traum.

Spiegelbilder gibt es, seit es Pfützen gibt, Tümpel, Seen, Bäche und das Meer. Was manchem bekanntermaßen zum Verhängnis wurde. Dabei hätte es selbst zu Zeiten der Antike schon die Möglichkeit gegeben, sich frei von jeglicher Gefahr vor polierten Metallplatten dem eigenen Konterfei hinzugeben. Selbstbildnis und Selbstliebe jedenfalls gingen von Anbeginn eine enge Partnerschaft ein. Erst die Romantik rang der Reflektion etwas Düsteres ab, ein Moment des Dämonischen. Und nun phantasierten Autoren munter darauflos, wie es wohl hinter den Spiegeln aussehe, ob sich dort ganz neue Lebensräume öffneten oder doch bloß spiegelverkehrte Paralleluniversen existierten. Sie fragten sich, was passiere, wenn man sein Spiegelbild verkauft. Und sie ließen geheimnisvolle Doppelgänger auftreten, geradeso, als seien diese direkt aus dem Spiegel herausgetreten, um dann in derlei Geschichten über die Identität des Individuums bis hin zum Selbstverlust zu philosophieren – mit solcher Gründlichkeit, dass sich die Vokabel „doppelganger“ in mindestens neun Sprachen wiederfindet.

Und nun Franziska Stünkel, Filmregisseurin, Fotokünstlerin und moderne Romantikerin, wie man vermuten darf angesichts ihrer Reflektionen, was unbedingt im doppelten Wortsinn zu verstehen ist. „Coexist“ nennt sie ihre Bildserie von Spiegelungen, aufgenommen während Reisen in vier Kontinenten, doch viel weniger am Wesen eines Orts interessiert, als am Motiv der Überlagerung, mit dem sie die Welt aus den Angeln hebt und zugleich danach fragt, ob es nicht mehr gibt als bloß das Sichtbare. Denn aufgenommen aus schräger Sicht kommt es bei Franzika Stünkels Bildern von Schaufenstern und Fensterscheiben weniger zur Verdoppelung des Raums als zur Überlappung von innen und außen. Statt ihn zu kontern, konterkariert sie damit den Blick auf die Dinge und öffnet mit Hilfe des Glases Räume, die nicht von dieser Welt zu sein scheinen, sondern allein in Gedanken existieren – und auf ihren Fotografien. Und so bewegt man sich durch ihr Werk wie durch einen Traum, in dem die Flut im nächsten Moment ein halbes Dutzend Gläser von einem Tisch spülen wird, in dem ein Passant direkt in den Schoß eines Brautkleids spaziert oder verschleierte Frauen wie hinter verschlossenen Türen stehen. Das hat natürlich metaphorischen Anspruch. Auch wenn er nicht immer so offensichtlich ist wie im Bild einer jungen Frau, die hinter der Scheibe eines New Yorker Coffeeshops und zugleich inmitten des Fußgängerstroms im Buch „Sweetness and Power“ liest. So macht Franziska Stünkel auf einer zweiten Ebene den Weg frei für Fragen eben nicht nur nach der Koexistenz von verzaubernden Bildern, sondern zugleich von Gesellschaftsformen, Glaubensrichtungen, Lebensentwürfen.

FAZ Frankfurter Allgemeine Zeitung 27.02.2020